Norbert Mey hat erlebt, wie Führung im Umbruch funktioniert. Er leitet das Osnabrücker Werk der Felix Schoeller Group. Viele Jahre war sein Unternehmen Spezialist für die Produktion von Fotobasispapieren. Dann aber fotografierte alle Welt plötzlich nur noch digital, der Fotomarkt brach zusammen. Felix Schoeller musste sich neu erfinden, und Norbert Mey musste den Wandel vorantreiben und moderieren. Im Interview erzählt er, was er dabei gelernt hat – und wie er sich als Führungskraft verändert hat.
Von Andreas Lesch
Herr Mey, Sie haben in der Felix Schoeller Group einen radikalen Umbruch gemanagt. Wie haben Sie Ihren Mitarbeitern klargemacht, dass solch ein Umbruch ansteht?
Zur Person
Norbert Mey ist der Leiter des Osnabrücker Werkes, dem Stammsitz der Felix Schoeller Group. Im Werk sind etwa 500 Mitarbeiter beschäftigt, davon der größte Teil im gewerblichen Bereich.
Wir haben ihnen gezeigt, wie der Markt sich verändert hat. Das war einfach, weil wir jeden Mitarbeiter, egal in welcher Altersstufe, fragen konnten: Wann hast du das letzte Mal fotografiert? Was glaubst du, wie oft hast du in deinem Leben jetzt geklickt? Und wann hast du das letzte Mal ein Bild ausgedruckt?
Die Zahl der Klicks ist vermutlich stark gestiegen – und die der Ausdrucke stark gesunken. Weil heute fast kein Mensch mehr Fotos auf Papier ausdruckt.
Richtig. Die Klickrate bei den Fotoapparaten und Handys hat im Verhältnis zur Ausdruckrate dramatisch zugenommen. Die Ausdruckrate wurde immer geringer.
Diese Digitalisierung hat Sie gezwungen, Ihr Unternehmen umzubauen.
Genau. Der Markt für Fotobasispapier …
… das traditionelle Kerngeschäft Ihres Unternehmens …
… ist völlig zusammengebrochen. Wir haben den Mitarbeitern aufgezeigt: Dagegen können wir uns nicht wehren. Der Wandel ist unausweichlich. Da müssen wir durch. Da können wir uns auch nicht auf Vertrieb und Geschäftsleitung zeigen und sagen: Die haben einen schlechten Job gemacht.
„Wir suchen nicht Schuldige, wir suchen Lösungen“
Erleben Sie solche Schuldzuweisungen oft?
Das Erste, was Organisationen in solchen Umbruchphasen suchen, ist meistens ein Schuldiger von oben, weil unten bei ihnen das schöne Leben aufhört. In diesem Fall war das nicht so. Wir haben den Mitarbeitern klargemacht: Wir suchen nicht Schuldige, wir suchen Lösungen. Und die Lösung ist, dass wir uns verändern. Egal was passiert – die schöne Zeit ist vorbei, Leute. Aber sie kommt wieder. Nur wird es bis dahin eine Zeit dauern.
Wie sollte sie denn wiederkommen?
Ich habe versucht, den Mitarbeitern klarzumachen: Durch den Wandel haben wir eine Riesenchance. Bisher haben wir die größte Fotomaschine der Welt gehabt, und bald können wir es schaffen, die größte Dekormaschine zu haben. Wenn wir das packen, dann haben wir einen neuen Stolz. Wir können wieder Weltmeister sein.
Sie produzieren mit der gleichen Maschine jetzt neue Produkte?
Ja. 2007 gab es erste Indikatoren dafür, dass der Markt sich radikal ändert – und dass wir für die Papiermaschine, unsere teuerste, größte Maschine im Konzern, ein neues Portfolio suchen mussten. Also haben wir entschieden: Wir fahren diese Maschine in ein komplett neues Marktsegment. Wir produzieren damit drei neue Produkte, die noch nie auf dieser Maschine gelaufen sind. Nicht mehr Fotobasispapier, sondern Dekorpapier, Trennpapier und Vliespapier.
Zum Unternehmen
Die Felix Schoeller Group wurde 1895 von Felix Hermann Maria Schoeller gegründet und befindet sich noch heute zu 100 Prozent in Familienbesitz. Unternehmensinhalt ist die Produktion und Vermarktung hochwertiger Spezialpapiere. Zu Zeiten der Gründung bis etwa zum Jahr 2000 war dies die Produktion von Fotobasispapieren, die als Rohmaterial an Fotofirmen wie Kodak, Fuji, Agfa und Konica geliefert wurden. Die Felix Schoeller Group hatte und hat dabei eine starke Marktposition: Etwa jedes zweite Foto entsteht auf ihren Papieren. Das Jahr 2002 stellte den Zenit im Bildermarkt dar.
Durch den Technologiewechsel von der analogen zur digitalen Fotografie brach der Fotomarkt drastisch zusammen, etablierte Spieler wie Agfa und Konica verschwanden. Kodak befindet sich in großen Problemen. Dieser Technologiewandel ist auch an der Felix Schoeller Group nicht spurlos vorbeigegangen, weil zu dem Zeitpunkt die Abhängigkeit vom Fotogeschäft immer noch sehr groß war. Gleichwohl hatte das Unternehmen bereits ab 1990 begonnen zu diversifizieren und das Geschäft auf eine breitere Basis zu stellen. Heute ist der stärkte Geschäftsbereich der der Dekorpapiere für die Holzwerkstoffindustrie. Darüber hinaus befasst die Felix Schoeller Group sich mit den unterschiedlichsten Unterlagen für den Digitaldruck, mit Vliestapeten sowie mit Trennpapieren für grafische oder medizinische Applikationen.
Mehr Infos zum Unternehmen finden Sie unter www.felix-schoeller.com.
Welche Folgen hat diese Umstellung für die Mitarbeiter gehabt?
Es war für sie ein bisschen so, als hätten sie vorher jahrelang Fußball gespielt – und sollten jetzt plötzlich Handball, Eishockey und Volleyball lernen. Es ist immer noch Sport, aber die Abläufe sind anders, die Regeln sind anders, die Schiedsrichter reagieren anders, die Körperkontakte sind anders.
„Sie müssen sehr viel flexibler sein“
Das heißt, Ihre Leute sollten plötzlich sehr viel mehr können, als sie vorher konnten?
Genau. Die müssen heute sehr viel mehr können, und sie müssen sehr viel flexibler sein. Sie müssen vom Kopf her freier sein, sie müssen sich jedes Mal komplett umstellen, wenn wieder ein anderes Produkt auf der Maschine läuft. Weil jedes Produkt sich auf der Maschine ganz anders verhält. Außerdem muss die Maschine wegen der Produktwechsel häufiger als früher abgestellt und gereinigt werden, und das bedeutet Wasser, Dreck, Dampf. Das hat man früher alle fünf Tage mal gemacht. Heute muss man das alle zwei oder drei Tage machen. Die Arbeit ist intensiver geworden.
Wie haben die Mitarbeiter reagiert, als Sie ihnen gesagt haben, was sich für sie ändern wird?
30, 40 Prozent von ihnen habe ich sehr schnell erreicht. Die, die auch ein bisschen visionär denken. 20 Prozent erreichen Sie ganz schwer. Ich habe mich gefragt: Warum nehmen die das nicht an? Vielleicht haben sie Angst vor der Zukunft – oder Bedenken, die wir in den Umbau einbeziehen sollten.
„Die Mitarbeiter träumten ja immer noch von dieser alten Zeit“
Wie haben Sie die Bedenken einbezogen?
Wir haben gefragt: Was ändert sich für die Leute im Arbeitsstil? Warum ist das so kritisch? Was können wir tun, um ihnen die Arbeit zu erleichtern? Wir haben die Leute dann an Standorte gebracht, an denen schon Dekorpapiere hergestellt werden. Da konnten sie sich das mal anschauen und sehen: So schlimm ist das gar nicht. Wir wollten sie so ein bisschen aus dem Kokon der alten Foto-Zeit herausholen. Die Mitarbeiter träumten ja immer noch von dieser alten Zeit. Von dem vergleichsweise ruhigen, beschaulichen Leben, das sie damals hatten.
Viele hatten wahrscheinlich dieses Leben wahrscheinlich sehr lange, oder?
Ja, viele hatten schon ihr 25-jähriges Betriebsjubiläum. Wir haben traditionell eine geringe Fluktuation. Jetzt kamen wir von einem sehr ruhigen Markt, der auch die Leute sehr ruhig gemacht hat, in einen sehr unruhigen Markt. Der Wandel hat Fragen aufgeworfen: Was bedeutet das für mich? Ist meine Zukunft abgesichert? Die Mitarbeiter verdienen bei uns recht gut. Wenn sie sich außerhalb umschauen müssen, ist das schon schwer.
Sie mussten in der Phase des Umbruchs auch Leute entlassen. Wie viele?
Das waren hier in Osnabrück gut 100. Ingenieure, Arbeitsvorbereiter, Leute mit einer kaufmännischen Ausbildung. Die Entscheidung, wen ich entlasse, wurde mir in Teilen durch die Sozialauswahl abgenommen. Umso härter war es dann, wenn es jemanden getroffen hat, den ich gut kannte.
Wie haben Sie das gemeistert?
In den Gesprächen mit den Mitarbeitern helfen nur offener Umgang und Professionalität. Wichtig war mir, schnell klarzustellen, was ist. Dann sind die Fronten geklärt. So schlimm das emotional ist.
„Entlassen macht keinen Spaß – egal wie sinnig das Konzept dahinter ist“
Wie waren diese Gespräche für Sie?
Nicht schön. Ich habe im Schoeller-Leben viel erleben dürfen, was hart war: nicht laufende Maschinen, Prozesse verändern, Organisationen umdrehen, die nicht so wollen, wie ich mir das vorgestellt habe. Das ist anstrengend, das reibt einen auf. Aber es macht Spaß. Entlassen macht keinen Spaß – egal wie sinnig das Konzept dahinter ist. Ich muss es tun, es ist ein Teil meines Jobs. Aber es ist etwas, was ich nach all den Jahren immer noch ungern tue.
Worauf haben Sie in den Kündigungsgesprächen geachtet?
Ich habe versucht, nur wenige, aber wichtige, knackige Informationen zu geben. Dann habe ich dem Mitarbeiter auch Zeit gegeben, sich zu äußern. Und ich habe ihn gefragt, ob man ihn begleiten kann.
Inwiefern?
Einige haben die Kündigung ja sehr gefasst aufgenommen. Es gab aber natürlich auch einige, die am Boden zerstört waren. Denen habe ich dann gesagt: Wir können Hilfe anbieten. Wir haben hier Sozialberater von der Diakonie, die Leute auffangen.
Haben Leute geweint?
Eine Person hat geweint.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Da musste ich schlucken – und habe versucht, so weit wie möglich professionell zu bleiben. Natürlich berührt mich das. Es wäre ja unmenschlich, wenn da jemand sitzt und weint – und mich das nicht berühren würde. Gottseidank war niemand dabei, wo ich Angst haben musste, dass Suizidgefahr bestehen könnte. Aber viele waren halt enttäuscht.
„Entlassungen bringen ein Weltbild ins Wanken“
Verständlich, oder?
Ja, klar. Schoeller ist ein Familienunternehmen! Ein bekanntes Familienunternehmen, dritte, vierte, fünfte Generation. Entlassungswellen hat’s da ganz selten gegeben. Jemand, der zu Schoeller gekommen ist, hatte immer das Gefühl, er hat hier seine Lebensstellung gefunden. Entlassungen bringen bei den Mitarbeitern dann schon ein Weltbild ins Wanken.
Was können Sie da tun?
Es ist wichtig, dem Mitarbeiter die Sicherheit zu geben, dass er einen guten Job gemacht hat – und dass er nichts dafür kann, dass er nun entlassen wird.
Gab es Leute, die in dem Kündigungsgespräch auf Sie persönlich sauer waren?
Angebrüllt hat mich keiner. Aber persönlich sauer: ja, das schon. Ich kenne ja viele Mitarbeiter seit Jahren. Natürlich haben die sich manchmal gedacht: Hättest du das nicht abwenden können? Oder: Diese Struktur-Veränderung, das war doch deine Idee! Und es stimmt ja; es war ja auch meine Idee: Wir mussten durchstraffen, das war ein Teil des Veränderungsprozesses. Wir haben gesagt: Wir können das künftig auch mit weniger Leuten schaffen.
Als Sie hörten, Sie sollten den Umbruch im Osnabrücker Schoeller-Werk managen, hatten Sie da im allerersten Moment ein bisschen Angst?
Nein.
„Ich habe geglaubt: Das kann ich“
Bedenken?
Nein. Ich bin jetzt 34 Jahre bei Schoeller. Ich war in Russland, ich war in Kanada, ich war in China und in Brasilien. Ich habe Entwicklung gemacht, ich war Produktionsleiter, ich habe eine Menge Erfahrung. Und ich habe mich dann in den Standort Osnabrück gesetzt und gesagt: Das Ding ziehen wir durch. Ich habe da keine Bedenken gehabt. Ich habe geglaubt: Das kann ich. Sonst hätte ich den Job nicht angenommen.
Innere Überzeugung ist für eine Führungskraft wichtig, oder?
Ja. Innere Überzeugung gehört dazu. Entscheidend ist in einem Change-Prozess aber auch: Glauben die Leute, dass der, der ihn umsetzt, es kann? Er darf kein Nobody sein, kein Externer, dem man es nicht zutraut – sondern er muss ein Kernspieler sein, der in der Geschäftsleitung genügend Rückhalt hat, um zu sagen: Ich kann auch mal was probieren.
Hatten Sie diesen Rückhalt?
Ja. Wenn Sie alles vordiktiert bekommen, wird es schwierig. Unsere Vorgabe war aber nur: Wir wollen das neue Produkt machen – und ihr müsst nach einer bestimmten Zeit ein verlässliches Ergebnis bringen. Wie wir das machen, mit welchen Konsequenzen wir vorgehen, wie wir die Organisation verändern, das habe ich mit meinem Führungsteam hier selbst beschlossen. Wir hatten alle Freiheit.
Was war Ihnen bei Ihrer Planung des Umbruchs wichtig?
Ich habe mir ein, zwei vertraute Gefährten gesucht, von denen ich sage: Das sind Ankerpfähle in meiner Organisation. Auf die kann ich mich verlassen. Diese Ankerpfähle brauchte ich, um mich dann selber um das Kernproblem kümmern zu können. Und das Kernproblem war, die Leute umzudrehen.
Wie meinen Sie das?
Am wichtigsten war für mich zu kapieren: Wie durchläuft ein Mensch, ein Mitarbeiter einen Change-Prozess, eine Veränderung?
„Dann geht er durch das Tal der Tränen“
Und? Wie durchläuft er sie?
In einer dynamischen Kurve: Er wird mit irgendwas konfrontiert. Er negiert das erst, dann geht er durch das Tal der Tränen. Dann erkennt er, dass er probieren darf. Dann funktioniert das. Dann gewinnt er Zutrauen, dann wird’s besser, und schließlich ist er wieder stabil.
Was hieß das für Sie?
Es war wichtig, sich immer wieder zu fragen: Wo stehe ich? Und wo stehen meine Leute? Wenn ich schon gefestigt war und dachte, das läuft alles, waren meine Schichtmeister teilweise noch im Tal der Tränen. Die waren nicht so schnell mitgekommen, wie ich mir das vorgestellt habe. Hieß für mich: noch mal zurückgehen, sie abholen, durch das Tal führen, erste Erfolge verbuchen, um dann sagen zu können, jetzt sind wir auf dem richtigen Weg.
„Ich habe mir zu wenig Zeit genommen“
Woran lag das: dass Ihre Mitarbeiter manchmal nicht so schnell mitgekommen sind?
Ich glaube, ich habe mir zu wenig Zeit genommen, um gut zu informieren. Ich mochte es nicht mehr, dass ich eine Information zum zehnten, elften, zwölften Mal geben musste. Aber genau dieses zehnte, elfte, zwölfte Mal ist wichtig, um auf unteren hierarchischen Ebenen das Eis zu brechen. Die Führungskräfte kriegen Sie sofort abgeholt. Aber bis Sie wirklich auf Maschinen-Ebene sind, bis ein Mitarbeiter in der vierten hierarchischen Ebene verstanden hat, was Sie wollen, brauchen Sie Zeit.
Haben Sie bis auf diese unterste Ebene hinab die Mitarbeiter selbst persönlich informiert?
Ja.
In einem 24-Stunden-Betrieb ist das zeitlich wahrscheinlich herausfordernd, oder?
Ja, klar. Wir fahren 350 Tage im Jahr 24 Stunden Schichten. Da musste ich schon mal um 22 Uhr in die Fabrik, ich habe Schichtwechsel mitgemacht oder Nachtschichten besucht. Das hat mich bei den Leuten glaubwürdig und authentisch gemacht. So hat die Mannschaft gespürt: Der Umbruch, der wird mit so einer massiven Gewalt gewollt, dass auch die Führungskräfte leiden und mitmachen wollen.
Wie haben Sie den Umbruch nach unten kommuniziert – und wie nach oben?
Eine Geschäftsleitung steht auf Grundsatzfolien, Powerpoint-Präsentationen und sehr globale Aussagen. Unten an der Maschine würde ich damit kein Stück erreichen. Da geht’s mehr um Details, um praktische Beispiele. Da würden die Mitarbeiter Powerpoint-Präsentationen mit schönen Balken- und Kreis-Diagrammen nicht verstehen. Also haben wir das dann halt runtergebrochen.
„Distanz ist gerade bei unpopulären Entscheidungen wichtig“
Wieviel Nähe haben Sie im Umbruch zugelassen?
Ich glaube, dass Distanz gerade bei unpopulären Entscheidungen wichtig ist. In einem Veränderungsprozess können Sie viel partizipativ machen, aber nicht alles, dann kommen Sie nicht weiter. Produktion ist nun mal kein basisdemokratischer Prozess. Irgendwann müssen Sie Dinge hierarchisch durchziehen. Auch unangenehme Dinge. Sie treffen Entscheidungen, für die Sie nicht gemocht werden, für die Sie, wenn Sie Erfolg haben, im besten Fall akzeptiert werden. Damit muss man umgehen können. Aber dafür habe ich mir den Job auch gesucht. Ich wollte hier nicht 550 Freunde haben, als ich Werkleiter geworden bin. Was aber hilft, ist ein respektvoller, wertschätzender Umgang miteinander.
Was heißt für Sie respektvoller Umgang?
Zuhören können. Ausreden lassen. Nicht zu emotional werden, außer es ist mal notwendig. Andere Entscheidungen akzeptieren können. Und Respekt heißt für mich auch: nicht nachtragend zu sein. Das finde ich wichtig, denn man muss gerade in einem Veränderungsprozess auch mal ungerecht und unpopulär sein. Das gehört zum Business dazu.
Das macht Ihnen nachts keine Schlafprobleme?
Nein. Bei meiner Frau ist das ähnlich, sie ist Sozialpädagogin. Wenn sie alle Probleme mit nach Hause genommen hätte, die sie jemals gehört hat, wäre sie nie im Leben glücklich geworden. Sie müssen sich sagen: Wenn ich hier zum Werkstor rausgehe und nach Hause fahre, dann bin ich Privatmann. Wenn mir das mal nicht gelingt, höre ich von meinen Freunden oder von meiner Frau: Du bist jetzt nicht bei Schoeller, du bist jetzt hier nicht der Werkleiter.
Dieses Abschalten nach der Arbeit, wann genau passiert das? Wenn Sie ins Auto steigen? Wenn Sie zu Hause angekommen sind?
Das hängt ganz davon ab, was mich tagsüber heimgesucht hat. Ich bin, glaube ich, schon sehr resistent dagegen, Dinge so sehr mit nach Hause zu nehmen. Abschalten kann ich in der Regel, wenn ich abends eine Runde mit meinem Hund durch den Wald gehe. Eine halbe Stunde dauert die Runde. Meine Frau sucht sich da immer irgendwelche anderen Hundebesitzer, mit denen sie reden kann. Ich brauche das nicht. Ich muss dann allein sein und lasse ein paar Gedanken hängen. Wenn ich dann wieder nach Hause komme, ist das Thema für mich durch.
„Sei nicht so hart! Da musst du aufpassen!“
Können Sie beschreiben, wie Sie sich selber in der Krise geführt haben?
Ich habe zwei Psychologen in der Familie. Mein Bruder ist Doktor der Psychologie in Berlin, und meine Schwägerin ist Psychologin in Herford. Mit denen habe ich telefoniert, wenn ich Probleme hatte oder mir mit einer Entscheidung nicht sicher war. Die haben mich dann reflektiert und gesagt: Das war nicht sauber! Sei nicht so hart! Da musst du aufpassen! Versuch das mal so zu sehen! Das hat gutgetan.
Was waren das für Punkte, bei denen Sie Beratung brauchten?
Wenn ich zu eingefahren oder zu emotionslos wurde. Irgendwann fängt das ja an, Routine zu werden. Dann sagt man sich, wenn man Leute entlassen muss: Haue ich die halt alle raus! Dann haben mein Bruder und meine Schwägerin zu mir gesagt: Das bist du doch gar nicht! Und dann habe ich gesagt: Stimmt, eigentlich nicht. Dann wurde diskutiert: Wie kommt’s dazu?
Und? Wie kam’s dazu?
Das ist ein Schutzmechanismus zu sagen: Haue ich die halt alle raus! Mein Bruder und meine Schwägerin haben mir Fragen gestellt: Wie fühlst du dich dabei? Hat dir das auch noch Spaß gemacht? Wie hast du den Mitarbeiter aufgefangen, wenn er geweint hat? Das hat mir geholfen, mir für mich klar zu sein, dass ich genügend Mensch bleiben muss, aber auch genügend Führungskraft. Dass ich eine vernünftige Balance finde – und einerseits Emotionalität und Mitgefühl zeige, andererseits aber auch professionell entscheide.
Ist diese Balance in der Krise besonders schwer zu halten?
Ja, klar. Weil Sie Schutzmechanismen aufbauen müssen. Wenn Sie viele harte Entscheidungen treffen müssen, zu denen Sie stehen, die Sie aber als Privatmann auch nicht so nett fänden, ist das hart, damit umzugehen. Dann steige ich auch nicht ins Auto und sage: Ich habe jetzt gerade zwei Kündigungen ausgestellt, super, mir geht’s gut, Hund an die Leine, das war’s! Sondern das beschäftigt mich schon. Aber wenn ich das nicht wollte, dann wäre ich hier nicht Werkleiter mit Personalverantwortung geworden.
„Da helfen nur Einsicht, Argumentieren, Sinnstiftung“
Haben Sie sich in der Phase des Umbruchs verändert – gerade auch durch die harten, unangenehmen Entscheidungen, die Sie treffen mussten?
Ja. Aber ich unterstelle für mich, dass ich mich in den letzten 20, 30 Jahren überhaupt extrem verändert habe. 1992, als junger Ingenieur, habe ich sehr genau gewusst, was ich will – und ich wollte meine Ideen gegen jeden durchdrücken. Was ich wollte, wollte ich. Heute würde man mit dieser Methodik keinen Change-Prozess mehr gewinnen können. Man würde scheitern. Die junge Generation würde das nicht mehr akzeptieren. Mit Druck kommt man da überhaupt nicht weiter. Da helfen nur Einsicht, Argumentieren, Sinnstiftung.
Wieviel länger als sonst sind in dem Change-Prozess Ihre Arbeitstage gewesen?
Tja, lang. Sie kommen garantiert nicht mit einem Zehn-Stunden-Tag hin, und gerade in der hektischen Anfangsphase habe ich das eine oder andere Wochenende geopfert, um hier vor Ort zu sein. Dadurch haben die Mitarbeiter gespürt: Da ist ein Veränderungswille in der Organisation, auch in den unangenehmen Zeiten. Dafür habe ich in den hektischen Monaten halt meine 15, 20 Prozent mehr Arbeitszeit in Kauf genommen.
„Das Tagesgeschäft ist auch ohne Führungskraft gelaufen“
Was haben Sie als Führungskraft aus der Zeit des Umbruchs gelernt?
Dass ich Dinge abgeben kann. In der Krise musste ich mich ausschließlich um die Dinge kümmern, die im Fokus standen. Und andere Dinge im Werk sind gelaufen, die ich sonst gemacht hätte – und die konnte ich mit ruhigem Gewissen meiner Führungscrew überlassen. Ich konnte mich auf meine Leute verlassen. Das Tagesgeschäft ist auch ohne Werkleiter, ohne Führungskraft gelaufen. Das war für mich eine schöne Erkenntnis.
Haben Sie sonst noch was gelernt?
Ja. Dass es Jahre dauert, Prozesse zu verändern. Man braucht für alles mehr Zeit, als man zuerst glaubt. Wenn man diese Zeit investiert, dann geht es letztendlich schneller. Lieber mal stoppen und die Entwicklungskurve lesen: Wo stehen die Organisation und der Mitarbeiter gerade? Das hätten wir vor 10 oder 15 Jahren nicht gemacht. Da hätten wir gesagt: Wenn der im Tal der Tränen steckt, dann steckt er halt im Tal der Tränen. Raus da!
Wie würden Sie im Nachhinein Ihr Krisenmanagement beurteilen? Sind Sie mit sich zufrieden?
Nein. Ich bin nie zufrieden.
„Die Unzufriedenheit ist es, die mich antreibt“
Nie?
Nein, nie. Und diese Unzufriedenheit ist es ja auch, die mich antreibt. Ich wollte dieses Osnabrücker Werk total gern umstrukturieren. Ich musste das nicht. Ich hätte auch weiter durch die Welt tingeln können. Aber ich fand diese neue Aufgabe hochinteressant.
Wieviel Druck haben Sie aus der Chefetage gespürt?
Viel (lacht).
Wie war das für Sie?
Ich fand das gut. Ich habe mir gedacht: Jetzt zeigst du denen noch mal, dass du’s hinbringst mit deiner Erfahrung. Aber der Druck war schon immens. Wenn’s danebengegangen wäre …
… dann wären Sie entlassen worden?
Das weiß ich nicht. Aber ich hätte das als Niederlage empfunden. Ich wäre damit nicht glücklich geworden. Für mich gibt’s dann auch keinen Weg zurück. Ich bin keiner, der nach dem Scheitern wohlig in den Schoß der Organisation fallen will. Ich glaube aber, das ist auch die Bedingung dafür, um so einen Job zu machen.
Gibt es Punkte, bei denen Sie sagen würden: An denen bin ich gescheitert?
Nee. Aber ich habe den einen oder anderen Mitarbeiter verloren. Einige Mitarbeiter haben freiwillig das Unternehmen verlassen – weil ihnen der Druck und das Arbeitspensum zu hoch wurden. Fand ich schade. Fand ich aber auch konsequent.
„Ich habe meinen Sohn in den ersten Jahren kaum richtig gesehen“
Haben die Abgänge Sie getroffen?
Ja, schon. Ich habe ja Mitarbeiter verloren, die ich schätze. Aber ihre Argumentation, die kann ich verstehen. Sie wollten mehr Zeit für ihre Familie haben. Ich bin jahrelang durch die Welt geflogen. Ich weiß, auf was man verzichtet, wenn man viel arbeitet. Ich habe meinen Sohn in den ersten Jahren kaum richtig gesehen.
Klingt hart.
Ja, und trotzdem bin ich immer noch mit der gleichen Frau verheiratet und habe immer noch das gleiche Kind – und das Kind kommt auch gerne nach Hause, wir haben ein gutes Verhältnis. Aber es hat halt Verzicht bedeutet. Ich wüsste nicht, ob ich diese Entscheidungen von damals heute noch mal so treffen würde. Aber es hat mir geholfen, so zu werden, wie ich bin. Und es hat Spaß gemacht. Ich bereue nichts.
Fotos: Alexander Böhle