„Ausweichen ist eine törichte Haltung“

Vorab: Das Gespräch für dieses Porträt fand im September 2017 im Haus des Kardinals in Mainz statt. Es war das letzte Interview, das Lehmann geführt hat. Wenige Tage danach wird er in ein Mainzer Krankenhaus eingeliefert. Von den Folgen eines Schlaganfall und einer Hirnblutung erholt er sich nicht mehr. Lehmann stirbt am 11. März 2018. Die große Stimme des Katholizismus in Deutschland ist für immer verstummt.

Von Alexander Matschak

Es gibt Menschen, von denen sagt man, sie fluten einen Raum. Wenn sie eine Tür öffnen und in einen Raum hineintreten: Dann stehen sie gleich im Mittelpunkt. Einfach so, ganz selbstverständlich. Als wäre ein unsichtbarer Scheinwerfer auf sie gerichtet. Kardinal Karl Lehmann ist so ein Mensch gewesen. Obwohl es ihm sicher eher unangenehm gewesen wäre, so etwas über sich zu lesen. Denn um seine Person hat er ungerne viel Aufheben gemacht. Er brauchte keine Inszenierung seiner Person. Seine öffentlichen Auftritte waren nüchtern. Aber: Das, was er sagte, das war ihm wichtig. Es war tief durchdacht, von vielen Seiten beleuchtet, intellektuell durchtränkt. Es hatte, wie man so sagt, Hand und Fuß. Und das ist es gewesen, was ihm seine Autorität verliehen hat. In der Kirche, in Politik und Gesellschaft, bei Christinnen und Christen aller Konfessionen, und bei Menschen, die mit Kirche und Glauben nicht viel am Hut haben. Auch wenn Lehmann in seinen letzten Lebensjahren körperlich schwer gezeichnet war: Seine Persönlichkeit, seine Autorität hatten an Strahlkraft wenig eingebüßt.

Führung in krisenhaften Zeiten

Diese Autorität erarbeitet er sich über Jahrzehnte: 33 Jahre ist Lehmann Bischof von Mainz, 21 Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Er muss in einer Zeit Verantwortung übernehmen, in der sich Kirche stark verändert. Einer Zeit, in der Kirche angesichts steigender Austrittszahlen immer weniger Volkskirche ist. Einer Zeit, in der immer mehr Menschen Glaube und Kirche egal ist. Einer Zeit, in der Kirche von Krisen und Konflikten nachhaltig erschüttert wird: Da ist der Streit um die Neubesetzung des Bischofsstuhls in Köln 1988, der jahrelange Kampf um die Schwangerenkonfliktberatung in den 1990er Jahren oder auch die Missbrauchsaffäre Anfang der 2000er Jahre. Um nur die bekanntesten zu nennen. Lehmann erlebt es hautnah, was es heißt, bei Veränderungen und Krisen zu führen.

„Immer Notizen machen, nichts verschludern“

Über das Amt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz sagt Lehmann einmal, dass er natürlich nicht der Papst von Deutschland sei. Laut Statut hat dieser keine Weisungsbefugnis gegenüber anderen Bischöfen. Denn die sind alleine dem Papst in Rom verantwortlich. Die kirchliche und gesellschaftliche Stellung als Vorsitzender muss er sich erarbeiten. Lehmann ist da ganz bescheiden: Er habe dieses Amt vor allem als Moderator und Inspirator verstanden. Aber Lehmann ist mehr als ein Moderator: Sein Wort hat Gewicht. „Nach meiner Erfahrung ist meine Autorität durch die Anforderungen, die von außen an mich herangetragen wurden, gekommen – hauptsächlich durch die Presse. Bei vielen Dingen, bei denen ich um eine Stellungnahme gebeten wurde, hätte ich sagen müssen: Da bin ich gar nicht befugt.“ Aber er habe sich die Fähigkeit erworben, fundierte Antworten zu geben – ein Muss in diesem Job.

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„Bei vielen Dingen, bei denen ich um eine Stellungnahme gebeten wurde, hätte ich sagen müssen: Da bin ich gar nicht befugt.“

Foto: Bistum Mainz / Feldmann

Und natürlich Kommunikation. Fähigkeit zum Dialog. Für Lehmann unverzichtbar. Um auch andere an der Meinungsbildung teilhaben zu lassen. „Meine wichtigste Erfahrung ist: Nicht durch den Verzicht auf Selbstständigkeit, sondern dadurch, diese Selbstständigkeit offen und transparent zu halten und kritische Gegenfragen zuzulassen, habe ich die Bischofskonferenz geführt“, ist sein Verständnis von Führung. Dazu kommt: Ehrlichkeit. Gerade auch mal in einer kritischen Situation – vor allem dann, wenn er den genauen Sachverhalt nicht kennt. „Da muss man ehrlich sagen: Das weiß ich im Moment nicht. Da muss ich mich kundig machen und einarbeiten.“ Und eines vergisst der Wissenschaftler Lehmann natürlich nicht: „Immer Notizen machen, alles dokumentieren, nichts verschludern!“

Lehmann ist niemand, der zu allem etwas sagen will. Die heutige Facebook- und Twitterwelt mit ihren endlosen Kommentarmöglichkeiten wäre ihm sicher ein Gräuel. Als Führungsperson müsse man klug entscheiden, wann und wo man sich öffentlich äußert: „Sonst besteht die Gefahr, dass man sich inhaltlich entleert, wenn man meint, überall dabei sein zu müssen und zu allem etwas sagen zu müssen.“ Aber wenn er für eine Sache brennt, wenn ihm eine Sache wichtig ist, dann ist der Mainzer Bischof hartnäckig. Er sei kein Typ, der schnell das Handtuch werfe: „Zähigkeit und Ausdauer, Langmut und Unverdrossenheit sind neben Entschlossenheit und Ergreifen der Situation meine Lieblingstugenden, denen ich wenigstens nachjagen möchte.“

„Hingeschmissen hätte ich nie“

Lehmann Führungsqualitäten sind vor allem beim Streit um die Schwangerenkonfliktberatung gefragt. Es ist wohl dieses Thema, das ihn wie kein anderes bekannt gemacht hat. Jahrelang sorgt dieser Streit immer wieder für Schlagzeilen. Stets sind die Augen auf Karl Lehmann gerichtet. Er wird zum Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland, muss zwischen der Politik, den deutschen Bischöfen und dem Vatikan vermitteln.

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„Wenn man kein Wagnis mehr eingehen will, gibt man auch viele Chancen des Einsatzes auf.“

Foto: Bistum Mainz / Feldmann

Kurze Rückblende: Nach der Reform des deutschen Abtreibungsrechtes beschließt die Bischofskonferenz 1995, Hilfe suchende Frauen weiterhin zu beraten und einen entsprechenden Beratungsschein auszustellen. Lehmann argumentiert: „Eine Kirche, die sich aufrichtig auf die Wunden und Verletzungen einer Gesellschaft einlässt, muss zwar allen Nötigungen der ihr eigenen Freiheit wehren, aber sie darf nicht die größtmögliche Nähe zu denen aufgeben, die um Hilfe rufen. Für manche mag dies wie Verstrickung in eine anfechtbare Situation aussehen. Doch wenn man kein Wagnis mehr eingehen will, gibt man auch viele Chancen des Einsatzes auf.“ In Rom sieht man das anders, fürchtet, dass sich die Kirche an der Tötung ungeborener Kinder beteiligt. Papst Johannes Paul II. fordert schließlich 1999 die deutschen Bischöfe unmissverständlich auf, keine Beratungsscheine mehr auszustellen, die eine straffreie Abtreibung ermöglichen. Die deutschen Bischöfe beugen sich der Entscheidung aus Rom. Das sind die historischen Fakten. Aber die Auseinandersetzung erschüttert die katholische Kirche in Deutschland nachhaltig. Beschleunigt den Veränderungsprozess.

Den Kern des Konfliktes sieht Lehmann in einer Besonderheit der deutschen Rechtskultur – Abtreibung ist zwar verboten, bleibt aber bei entsprechender Beratung straffrei. „Das war in Rom sehr schwer zu vermitteln“, sagt Lehmann. Für Papst Johannes Paul II. sei der deutsche Weg eine „Ausflucht“ gewesen, „um letztendlich doch eine Erlaubnis für Abtreibung zu schaffen“. Lehmann sucht jahrelang nach einem Kompromiss zwischen beiden Seiten, kämpft für den Verbleib der deutschen katholischen Kirche in der Schwangerenkonfliktberatung. Daraus macht er keinen Hehl. Und es ist ihm wichtig, dass seine eigene Position klar ist, trotz aller Diplomatie. Denn: „Von einem Bischof erwartet man einen klaren und begründeten Standpunkt, der nicht mit Sturheit, sondern mit Offenheit verbunden ist. Ausweichen ist eine törichte Haltung. Denn wenn man Entscheidungen ausweicht oder verzögert, kann man sündigen. Dadurch gehen Chancen verloren, die nicht wiederkommen. Oder man wird als jemand abgeschrieben, mit dem das Gespräch nicht lohnt.“ Lehmann wundert sich, dass Papst Johannes Paul II. ihn immer wieder anhört. „Dafür habe ich ihn bewundert. Dass er nie sagte, das will ich nicht mehr hören.“

„Ich war selbst mitten im Feuer.“

Einen Berater hat sich Lehmann in der Zeit nicht gesucht. Vielmehr habe er versucht, „die ganze Genese“ zu beobachten und daraus Handlungen abzuleiten. „Ich war selbst mitten im Feuer. Da musste ich für mich selber immer wieder formulieren: Wie weit können wir gehen? Was können wir noch machen? Wo können wir Hilfe holen? Und es war so: Von unseren Leuten haben sich nicht gerne viele exponiert.“ Lehmann ist sich bewusst: Seine Haltung ist angreifbar. Darum versucht er auch immer die Argumente der Gegenseite nachzuvollziehen und zu verstehen. „Mir war immer klar, dass wir verlieren können. Aber ich hätte nie hingeschmissen. Denn: Wir beraten die Frauen auf alle Fälle weiter – in welcher Form auch immer.“ Lehmann ist überzeugt: Diese Einstellung, diese perspektivische Offenheit mindert bei einem Konflikt am Ende die Bitterkeit. Vor allem dann, wenn man eine Auseinandersetzung verliert. Schwierig bleibt für ihn, dass andere Bischöfe hinter seinem Rücken Einfluss nehmen. Wenn er davon erfährt, spricht er diejenigen offen an, argumentiert in Briefen und Interviews für seine Position. Allerdings bekennt er den ausbleibenden Erfolg: „Die Herzen habe ich vielleicht nicht immer erreicht.“

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„Die Herzen habe ich vielleicht nicht immer erreicht.“

Foto: Bistum Mainz / Feldmann

Lehmann weiß auch um die Gefahren des Konflikts, denn er wird mehr und mehr zu einer Zerreißprobe für die katholische Kirche in Deutschland. Davor warnt er Johannes Paul II. eindringlich – selbst dann noch, als er bereits weiß, dass der Papst entschieden, er den Kampf verloren hat. Und tatsächlich kommt es so, wie Lehmann befürchtet. Nach dem Ausstieg der katholischen Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung gründet sich der Verein Donum Vitae (Geschenk des Lebens), der die kirchliche Beratung fortführen will. Die Gründer kommen aus den Reihen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Menschen mit denen Lehmann bereits jahrzehntelang zusammenarbeitet. Und die sich mit der Vereinsgründung dem Vorwurf aussetzen, sich im offenen Widerspruch zum Papst und zur katholischen Lehre zu befinden. Vor allem in Bayern gibt es einen jahrelangen Streit. Lehmann wird gebeten, zu vermitteln – er hat abgelehnt: „Ich habe da alles ausgekostet, was möglich war, nehmt einen anderen.“ Aber auch die Gegenseite bleibt nicht untätig: Im Jahr 2000 wird das Forum Deutscher Katholiken gegründet, das sich als Konkurrenzorganisation zum Zentralkomitee der deutschen Katholiken versteht und insbesondere dem Papst in Rom treu sein will. Die Gräben in der deutschen katholischen Kirche sind tief geworden. Und auch unter den Bischöfen ist die Stimmung nach der Entscheidung des Papstes nicht die beste. Lehmann spricht von einem „diffamierenden Kampf“, will mehr dazu aber nicht sagen. Bleibt da ganz schweigsamer Diplomat.

Lehmann beugt sich schweren Herzens der Entscheidung aus Rom – trotz aller Enttäuschung. Er habe eine „Trauer- und Schockphase zur Überwindung der Entscheidung“ gehabt, sagt er. Trotzdem: Er resigniert nicht, gründet im Jahr 2001 das „Netzwerk Leben“ im Bistum Mainz, das sich bis heute erfolgreich um Frauen in Schwangerschaft und in Notsituationen kümmert. Es tröste ihn, dass Frauen, die sich in einer Konfliktsituation befinden, auch weiterhin „zu uns kommen“. Lehmann bedauert, dass das Thema der positiven Lebensrettung aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist. Und dass die katholische Kirche bei der Sexualberatung nicht mehr glaubwürdig erscheint. Geradezu befreiend sei für ihn, dass Papst Franziskus die Menschen weltweit in einem Fragebogen zu ihrer Meinung zum Thema Partnerschaft und Ehe befragt hat. Daher kann er auch – fast 20 Jahre nach dem Ende des Konflikts – nach wie vor sagen: „Der Kampf hat sich gelohnt.“

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